Fehler machen – eine Liebeserklärung
In meiner post-pubertären Zeit als Teenager ging auch ich, nebst vielen anderen Dingen die mir plötzlich wichtiger erschienen, zur Schule. Kunst war, um das Klischee weiter zu bedienen, mein Lieblingsfach, was aber größtenteils der Lehrkraft zuzuschreiben war die mich ab der fünften Klasse bis hin zum Abitur begleitete. Bis zur zehnten Klasse hieß mein Kunstlehrer Herr Scholl.
Aus Herrn Scholl ward nach den Sommerferien des Jahres 2006 Frau Scholl. Einige Operationen später stand anstatt eines resoluten Mannes langes wallendes Haar, eine Haut wie ein Babypopo kombiniert mit perlmuttfarbenen Stiletti in Größe 45 vor mir. Trotzdem konnte man sich plötzlich nicht mehr vorstellen wie es vorher einmal gewesen ist.
Diese wundervoll wandelbare Person sollte mein Leben in vielerlei Hinsicht prägen. Ich hatte in meinen jungen Schaffensjahren eine ausgeprägte Affinität gegenüber Radiergummis, Ratzefummeln, Tintenkillern, Tipexstiften und jeglichen Gegenständen, die bestehende Striche ins Nirvana der nie erblickten Kunst schicken konnten. Ein schon damals ausgeprägter Hang zum Perfektionismus trieb mich dazu an.
Meine Bilder mussten aus jedem Blickwinkel stimmig sein: Perspektive, Farbkombination, Größenverhältnisse. Eine Perfektion, die sich nur durch die exzessive Verwendung des Radiergummis erfüllen konnte. Wahrscheinlich bin ich die einzige Radiergummibenutzerin dieser Breitengrade, die einen Radiergummi vollständig aufradiert hat, seine komplette wohlgeformte, quadratisch weiße Existenz mit Bleistift vermischt auf den Boden gewischt habe. Seine Halbwertszeit war abgelaufen.
Der nächste wohlgeformte, quadratisch weiße Gummiblock ließ mir keine Chance, ihn seiner Bestimmung zuzuführen. Mitten aus der oft geübten Radierbewegung entriss mir meine Kunstlehrerin Frau Scholl das gute Stück und schmetterte ihn in den Papierkorb. Gift und Galle keifend, schrie sie mir ins Gesicht: „Nie wieder wirst du einen Radiergummi in meinem Kunstunterricht verwenden. Jeder Strich, den du setzt, jede Linie, die du ziehst, jede Fläche, die du füllst, bleibt auf dem Papier! Nur durch die Auseinandersetzung und Bewahrung deiner Fehlversuche kannst du etwas lernen, kannst du dich weiterentwickeln. Und das gilt für das ganze Leben, merkt euch das.“ Fehler sind keine Fehlschläge, sondern Erfahrungen. Oder mit den Worten des Meisters der sinnentleerten Weisheiten, Oscar Wilde: Experience is the name everyone gives to their mistakes.
Aber: Ein Fehler ist ein Fehler ist ein Fehler. Oder nicht? Mittlerweile habe ich schon so viel aus meinen Fehlern gelernt, dass ich manchmal glaube, ich suche förmlich nach den nächsten Gelegenheiten welche zu machen. Nicht nur Individuen machen Fehler, sondern Gruppen, Völker, Nationen, Kontinente, Welten. Gestern noch saubere Energie, heute die Hundescheiße am Hacken der Menschheit, gestern noch ein gerechter Krieg, heute Völkermord. Es gibt keine allgemeingültige Festlegung, was falsch und was richtig ist, die Sicht des Betrachters macht den Fehler. Wie schön wäre es doch, einen großen universellen Radiergummi zu haben, der all diese Schrecklichkeiten, all diese Ungehörigkeiten und Schändlichkeiten in kleine handliche Gummischnipsel verwandeln könnte. Aber der Radiergummi wurde uns ja weggenommen. Oder noch besser: Apfel-A + Apfel-Z = Friede, Freude, Eierkuchen. Stattdessen werden große Gruben gegraben, in denen je nach Bedarf Leichenhaufen, überproduzierte Nahrungsmittel oder eben Atommüll verschwinden sollen. Aus den Augen aus dem Sinn!
Zugegebenermaßen: So ein atomares Endlager ist etwas Feines! Oberflächlich betrachtet sieht man nichts, auch wenn das die angrenzend wohnenden Menschen wahrscheinlich anders sehen; aber da muss der Einzelne auch mal ein Opfer für das Allgemeinwohl bringen. Solidargemeinschaft schimpft sich das. Kurios ist die Wortwahl ohnehin: Endlager. Ein Endlager ist ein verheißungsvolles Versprechen! Hier wird Hoffnung verkauft, hier werden Lösungen vorgegaukelt und das nicht zu knapp. Einerseits wird eine endgültige Lösung propagiert – gerade wir Deutschen waren ja schon immer sehr ambitioniert, was Endlösungen angeht – und andererseits spricht man von Lagerung. Aber ein Lager ist ja eigentlich nicht endgültig, sondern eben nur eine Lagerung (auf unbestimmte Zeit). Endlagerung. Komisches Wort.
Ich würde auch gerne so Einiges endlagern. Der ganze emotionale Müll der letzten zwei Jahrzehnte, die verpassten Gelegenheiten, falschen Entscheidungen, peinlichen Momente. Es geht vielleicht nicht darum die Erinnerung an Fakten zu löschen, sondern deren emotionale Bewertung. Wer etwas entsorgt, will sich einer Sorge entledigen. Einfach eine Grube graben, am besten irgendwo oben in Niedersachsen, wo die Wälder dunkel und die Moore tief sind. Und die Menschen keine Lobby haben, um sich gegen das Dauergrab zu wehren. Ein Mensch löst sich irgendwann auf in seinem Grab. Doch was werden die armen Urenkel der braven Elbbauern sagen, wenn in 150 Jahren die grausamen 90er-Frisuren, mein erster Suff und die Kinderkrakeleien aus der Erde hervorbrechen. Ich weiß schon, was ich sagen werde: „Mir doch egal, nach mir die Sintflut!“ Ähnlich scheinen die letzten Regierungen unseres schönen Landes auch gedacht zu haben.
Kehren wir von den existenziellen Fragen zurück zu dem alten Rein-Raus-Spiel des Erinnerns und Vergessens, dass wir alle so gut kennen. Ein Bruchteil der Informationen, die unsere Augen, Nasen, Ohren und Hände wahrnehmen, wird unser Gehirn tatsächlich speichern, ein Großteil wird in den Weiten der Gehirnwindungen verpuffen. Dabei ist das Vergessen die tatsächlich bemerkenswerte Denkleistung unseres Gehirns, Erinnerungsvermögen ist dagegen Firlefanz, Kleine-Leute-Kunst. In der Welt, in der wir heute leben, werden wir permanent mit Myriaden der aberwitzigsten Farben, Formen und Geräusche beschossen, deren sich unsere Synapsen kaum mehr erwehren können. Aus den Naturwissenschaften stammt der schöne Begriff der Halbwertszeit. Laut eines seriösen Onlinelexikons bezeichnet Halbwertszeit in der Biologie die Zeitspanne, in der in einem Organismus der Gehalt einer inkorporierten Substanz durch die Wirkung aller biologischen Prozesse auf die Hälfte abgesunken ist. Beim radioaktiven Zerfall steht die Halbwertszeit für diejenige Zeitspanne, in der die Menge und damit die Aktivität eines gegebenen Radion uklids sich um die Hälfte reduzieren.
Ich möchte diese abstrakte Definition durch ein lebensnahes Beispiel erläutern: Würde ich morgen früh eine ordentliche Portion Yellow-Cake mit Milch frühstücken, bestehend aus wertvollen Inhaltsstoffen wie Uranylhydroxid, Uranylsulfat, Natrium-Para-Uranat und Uranylperoxid, so würde sich die Wirkmenge der gesunden Zutat in den nächsten 245.500 Jahren in meinem Körper halbieren. Das wäre dann im Jahre 247.513 nach der Geburt unseres Heilands. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit hätte mich davor ein sympathisches Lymphdrüsenkarzinom hinweg gerafft. Aber wie gesagt: Nach mir die Sintflut.
Mein letzter Instagrampost hätte eine Halbwertszeit von einer Stunde und zwanzig Minuten, danach nähme das Interesse rapide ab. Schließlich warten in den Weiten des world wide web noch so viele Videos von süßen Katzen, dummen Menschen und unbegabten Musikern und so viele Photos von Leuten, die gerade die Vintageapp auf ihrem IPhone 7px Deluxe entdeckt haben. Die Halbwertszeit unserer Erinnerungen nimmt mit der Veränderung der verwendeten Medien zusehends ab. Zwei windige Wissenschaftler – John ‚monomania‘ Markwell und David ‚brillant‘ Brooks – haben mit einer zweifellos fundierten und seriösen Untersuchungsmethodik herausgefunden, dass die Halbwertszeit eines Buches fünf Jahre beträgt, die eines Hyperlinks 51 Monate. Davon ausgeschlossen sind die großen Klassiker der Weltliteratur. Was genau möchte uns diese epochemachende Erkenntnis vermitteln? Wahrscheinlich nichts.
Fakt ist, dass trotz oder gerade wegen der in berauschenden Mengen zur Verfügung stehenden Informationen besonders in den westlichen Industrienationen die Halbwertszeit der Erinnerungen gesunken ist, egal ob sie nun auf einem Bildschirm stehen oder auf einem Blatt Papier. Oder auf einem Bildschirm, der so tut, als wäre er ein Blatt Papier. Und mit der Halbwertszeit der Erinnerungen scheint gleichzeitig das Bedürfnis an politischer Teilhabe und sozialem Engagement zu sinken: „Oh, in Fukushima sterben Kinder an radioaktiver Strahlung!“ „Macht nichts, der süße Panda hat Nachwuchs geworfen.“ „Oh, in Tschernobyl sterben immer noch Kinder an radioaktiver Strahlung!“ „Macht nichts, Miley Cyrus zeigt Nippel.“
Manchmal entsteht mir der Eindruck, der moderne Mensch hätte fest installierte Scheuklappen an seinem Mährenschädel, die ihn vor zu viel Leid und Unheil bewahren. Ein kleines bisschen Unglück wiederum schadet ja nicht, solange es nur aus der Flimmerkiste kommt. Wer kennt nicht das wohlige Unbehagen, das dein sympathischer in Feinrippunterhemden gehüllter Nachbar verspürt, wenn er im Fernsehen die dickbäuchigen afrikanischen Kinder mit den Zahnstocherbeinen und den Fliegen im Auge sieht. Aber so ein schlechtes mitteleuropäisches Gewissen ist schnell mit einer kleinen Spende an Unicef besänftigt. Oder mit ein paar Dosenbier.
Einer weiteren Gruppe Wissenschaftler aus den U.S.Almighty ist es gelungen, durch die Injektion von Dopamin in die Hyppothalami von Rattengehirnen bestimmte Erinnerungsreaktionen der Tiere zu unterdrücken bzw. andere zu verstärken. Ließe sich diese Methode auch auf die großen zweibeinigen Ratten übertragen, könnten so die ganzen garstigen Erinnerungen, mit denen sich unser wohlstandgenährtes Gehirn herumplagen muss, gelöscht werden. Keine peinlichen Kindheitserinnerungen mehr, kein Darfur, kein Fukushima, kein Gorleben. Einfach in den Tiefen des Gehirns eingelagert und im wahrsten Sinne des Wortes vergessen, wegradiert. Tolle Sache! Leider wird es zur Serienreife dieser Behandlung noch ein paar Jahre dauern und wir armen Gemüter müssen auch in Zukunft diese vielen kleinen und großen Ungerechtigkeiten, Katastrophen und Fehlentscheidungen ertragen, die unsere Sinne penetrieren und Synapsen foltern.
Und selbst ein Mensch, der sich immer wegdreht, schaut irgendwann in die richtige Richtung. Natürlich hat keiner von uns die Macht, die bestehenden Verhältnisse vom Tisch zu wischen und ein friedliches mit Wind- und Wasserkraft angetriebenes Utopia aus dem Boden zu stampfen. Eine solche Denkweise ist blauäugig und zeugt von wenig Weitsicht. Doch jeder Einzelne hat die Möglichkeit, mit offenen Augen durch die mediale Welt zu gehen und so oft er kann seinen Finger zur mahnenden Geste zu erheben und das Unrecht anzuprangern… oder zumindest nicht weg zu schauen.
Die Alternative ist hinlänglich bekannt: Rein in die Grube, Deckel drauf und nach mir die Sintflut.